Lockdown Capitalism
24. November 2021 - 17:09 Uhr
Die vierte Welle der Corona-Pandemie hält die Bundesrepublik in Atem. Der Kollaps des Gesundheitssektors steht vielerorts kurz bevor. Die Überlastung vor allem der pflegenden und lehrenden Arbeiter:innen im Gesundheits- und auch Erziehungssektor ist Tatsache. Die Diskussionen um die Impfpflicht und die verschiedenen G-Regel-Konzepte sind vermutlich von kurzer Halbwertszeit. Früher oder später wird eine solche Regelung zur Impfpflicht kommen. Dagegen schließt die künftige Bundesregierung Lockdownregelungen weitgehend aus. Gerade aufgrund ihrer antidemokratischen Auswirkungen auf die essentiellen politischen Rechte scheint das kein Verlust zu sein. Doch auch der kapitalistische Selbstzweck würde, wäre er dazu im Stande, einen Freudentanz zu Ehren dieser Entscheidung der Ampel-Koalition vollführen.
Ein Kommentar
Über die Widersprüchlichkeit der Krisenbewältigung angesichts der kapitalistischen Realität wurde auf addn.me bereits mehrfach geschrieben. Auf der einen Seite steht eine Pandemie, die Kontaktreduktion zum obersten Gebot macht. Unabhängig von allem was die Medien- und Politiklandschaft uns glauben machen möchte, hat „die arbeitende Bevölkerung“ ihre meisten Kontakte am Arbeitsplatz. Darum würde es durchaus nahe liegen, wenn zahlreiche Sektoren der Industrie vorübergehend geschlossen oder ihre Aktivitäten reduziert würden. Dabei blieben natürlich zahlreiche Betriebe übrig, die weiterhin Produkte herstellen und Dienstleistungen vielfältiger Art anbieten müssen.
Auf der anderen Seite steht aber der ungezügelte Selbstzweck welcher der Produktion von Waren zu Grunde liegt. Es geht nicht um die Herstellung von Gebrauchsgegenständen, die den Menschen bei Selbstentfaltung, Überleben und Muße behilflich sind. Waren dienen einzig dem Zweck, auf dem Markt veräußert zu werden und damit Mehrwert zu generieren, der immer und immer wieder neu investiert und damit (bestenfalls) vermehrt werden kann.
Gelingt dieser Kreislauf, die „Selbstverwertung des Werts“ nicht, dann kommt die kapitalistische Maschine ins Stottern, dann droht die nächste Krise. Die enormen Einbrüche des Weltmarkts im ersten Lockdown hat die Regierungen und Kapitalfraktionen, aber natürlich auch viele andere, das Fürchten gelehrt. Kein Wunder also, dass die künftige, sozialdemokratisch geführte Bundesregierung jetzt ihre Verbundenheit zum Kapital unterstreicht. Die Kritik von Seiten der CDU ist reine Heuchelei.¹
Bei allen gefährlichen Auswirkungen, die der „Freizeit- und Demokratielockdown“ hatte, so rückt nun auch der unbedingt notwendige Lockdown des Kapitals in weite Ferne. Die Schließung zumindest einiger Teilbereiche und die erhöhte Sensibilität für die Pandemie, die durch den Einschnitt des Lockdowns 2020 entstand, entfällt derzeit weitgehend. Während inzwischen Schulen und Kindergärten bei den derzeitigen Inzidenzen geschlossen werden, läuft alles andere weiter, wie bisher. Die Last tragen einmal mehr die Familien und damit überwiegend Frauen.
In Sachsen wurden bereits zahlreiche Schulen dicht gemacht, nachdem die Inzidenzen unter Schüler:innen in astronomische Höhen schossen. Allein in Dresden sind es seit Montag über 50 Schulen. Doch solange nicht wieder großflächig Betriebe geschlossen werden, vergrößert sich das Elend von Kindern und Eltern um ein Vielfaches. Man wird sich wohl oder übel entscheiden, ob nun Kinder zu betreuen oder Geld verdienen wichtiger ist. Den Ausweg soll das Krankengeld bei Erkrankung des Kindes bieten, dass immerhin im Sinne des Infektionsschutzgesetzes (IfSG) derart ausgeweitet wurde, dass solche Notschließungen unabhängig von anderen Regeln eingeschlossen sind. Allen, die sich von 70% ihres gewöhnlichen Einkommens ihren Lebensunterhalt leisten können, sei darum also ein frohes Weihnachtsfest gewünscht.
Die zweite Seite der kapitalistischen Medaille ist hier bereits angesprochen: die Auslagerung all derjenigen Kosten die der menschlichen Reproduktion gelten. Die menschliche Arbeitskraft wird für den Betrieb still vorausgesetzt. Dass dafür jedoch irgendwer zu sorgen hat und darum entsprechende Wertschätzung denjenigen gebührt, die Sorge und Pflege besorgen, war Ausgangspunkt zahlreicher Debatten im vergangenen Jahr.
Doch „Wertschätzung“ ist im Kapitalismus ein zweifelhaftes Gut. Denn auch die Arbeitskraft ist nichts anderes als eine Ware. Ihr Lohn bemisst sich nicht an der Menschenwürde oder anderen oft zitierten Kategorien. Er bemisst sich hauptsächlich am Kräfteverhältnis zwischen Arbeiter:innen und Chefetage. Im Gesundheitssektor gilt nichts anderes. Waren müssen produziert und in Mehrwert umgewandelt werden. Wenn Gesundheit eine Ware ist, dann hat sie billig zu sein und sparen lässt sich am besten im Produktionsprozess.
Der Pflegenotstand und der Exodus aus den Pflegeberufen, die Knappheit von Krankenbetten und Beatmungsgeräten, sowie alles weitere Elend resultieren einzig und allein aus der kapitalistischen Verwertung des Gesundheitssystems. Es ist kein „natürlicher“, „normaler“ Zustand, dass Intensivbetten begrenzt, medizinische Geräte und Medikamente knapp oder Personal nicht ausreichend vorhanden ist. Nein, dass entspringt der kapitalistischen Inwertsetzung des Gesundheitssystem mit Fallpauschalen und lebenswichtigen Medikamenten, die man sich leisten können muss.
Dieser Zustand hat seinen Ursprung auch in einer „arbeitgeberfreundlichen“ Politik, die etwa das Arbeitszeitgesetz neu regelte, damit sowieso bereits gebeutelte Pflegekräfte noch längere Schichten in kürzeren Abständen arbeiten „dürfen“. Gäbe es all dass nicht, es wäre immer noch Pandemie, aber notwendige Operationen fänden weiterhin statt und in den Altersheimen könnten trotz allem gut gelaunte Pfleger:innen alte Menschen menschenwürdig behandeln.
¹ Eine äußerst amüsante Maßnahme war die Ankündigung des amtierenden Gesundheitsministers, den Impfstoff Moderna vor anderen vorzuziehen, da die eingelagerten Dosen demnächst ihr Verfallsdatum erreichen würden. Spahn versuchte sie so aus dem Reich der Waren – die weg fliegen, wenn sie niemand verwendet –, auf die Ebene von Gebrauchsgegenständen zu zerren. Letztere werden gebraucht und entsprechend verwendet, wenn sie da sind. Doch auch der Impfstoff ist eine Ware und hat seinen Zweck erfüllt, sobald er am Markt verkauft wurde. Die SPD weiß es besser und forderte die freie Konkurrenz getarnt unter dem Deckmantel der Nachfrage.
Bild: Plakataktion der Kampagne „Nicht auf unseren Schultern!“
Veröffentlicht am 24. November 2021 um 17:09 Uhr von Redaktion in Ökologie, Soziales